Tommy Wild

Musician, Singer, Songwriter

From the blog

Die Schatten der toten Tage

Huch, was für ein Titel!? Es gibt im November ein paar Tage, die erscheinen mir jedes Jahr als die lebensfeindlichsten im ganzen Jahr. Da scheint alles mehr ins Jenseits gerichtet zu sein als im Diesseits zu wirken. Es gibt Halloween, einen Totensonntag und das Wetter ist manchmal so trist, dass man die warme Betthöhle nicht verlassen will. Manche finden das nicht weiter schlimm, begrüßen es sogar als willkommene Zeit für Rückzug und Selbstbesinnung. Bei mir äußert sie sich gerade in einem massiven Prozess der Selbstkonfrontation. Mich plagt ein sinnloser Reizhusten und ich belle meine Welt an, als ob ich alles Gift, was je in mir entstanden ist hinaus katapultieren will, mich befreien will von festsitzenden Altlasten. Mein Körper agiert und als ganzheitlich denkender und vor allem fühlender Mensch, forsche ich nach, was wohl in meiner Emotionalebene für ein Bild wirkt und welche Gedankenmuster darunter liegen, die mich so dermaßen durchrütteln. Reizhusten ist eine höchst aggressive Form körperlichen Ausdrucks und ich fühle, im ausgeliefert sein, gewaltige Wut und Zorn, der da angestaut ist. Zorn gegen eine Welt, die stets erwartet und fordert, der ich immer etwas schuldig bin, der ich meine Unschuld beweisen muss, mich rechtfertigen muss, in der ich funktionieren muss und mitlaufen muss, muss, muss, muss…

Ja, das holt mich dieser Tage alles ein und ich breite es vor mir aus, in aller Ruhe, sofern der Husten nicht schneller ist. Bei genauem hinsehen entdecke ich all die alten Lebensmuster, die man mir anerzogen hat, nach denen ich nach wie vor mich verhalte. Zwar will ich es nicht wirklich wahr haben und halte mir vor, was ich alles anders gemacht habe und welche Erlebenswelten ich dadurch entdecken konnte, aber im Grunde tickt da eine Uhr in mir, die ich nicht selber gestellt und aufgezogen habe. (Anmerkung für die jüngeren Generationen: Früher musste man Uhren noch täglich aufziehen, da hatten sie keine Batterien.) Und ich spüre, diese Uhr hat ausgedient. Ich werde mich ihrer entledigen. Ähnlich wie die alten Klamotten aus meinem Kleiderschrank. Sie passen nicht mehr zu mir, ich fühle mich fremd in ihnen. Ich habe mich verändert. Ja, ich weiß, wir verändern uns permanent, aber dieses mal fühlt es sich anders an, so als ob ich eine alte Welt verlasse und in eine neue einzutreten versuche. „Mein“ Deutschland, meine Heimat existiert nicht mehr für mich, ich bin draußen, obwohl ich scheinbar drin bin, komme aber nicht rein…, und will es vielleicht auch gar nicht mehr. Und dieses Erleben und Fühlen trägt durchaus etwas von Tod und Sterben in sich und die Wellen des Hustens sind wie das sinnlose Kämpfen gegen etwas, was unweigerlich kommen bzw. gehen wird. Gleichzeitig fühlt es sich an, wie bei einem Geburtsvorgang, zyklische Wehen, die mit gewaltiger Macht etwas Neues ans Licht der Welt pressen. 

Sieben Monate Auszeit waren ein Vorgeschmack darauf, wie das Leben sich anfühlen kann, wenn ich mich aus den alten Mustern verabschiede, mich entkoppele und ganz zu mir selbst komme, selbstbestimmt und absolut  selbstverantwortlich. Letzteres ist ein erheblicher Knackpunkt für mich und wahrscheinlich für die meisten Menschen. Wir haben es in unserer Gesellschaft etabliert, dass wir die Verantwortung nicht mehr selbst übernehmen mussten. Wir gaben unsere Stimme und ließen „die da oben“ mal machen, schloßen 10 Versicherungen ab und wähnten uns auf der sicheren Seite, „mir kann jetzt nix mehr passieren, bin abgesichert“…usw. Und man fühlt sich ziemlich nackig, wenn das alles nicht mehr da ist und wenn das Konto nicht mehr gedeckt ist. Aber wie fühlt es sich an, wenn gar kein Konto mehr da ist, keins benötigt wird? Wenn ganz neue Wege des Miteinander gefunden werden und die Schlechtigkeit vertrocknet und schlichtweg nicht mehr existiert? Wenn die Angst der Liebe weicht? Und das wird sie, tat sie schon immer. Dann werden die Schatten der toten Tage vielleicht nicht mehr von leidvollem Erleben geprägt sein. 

Ich wünsche euch von ganzem Herzen Einkehr zu euch selbst. Wir faseln im Advent zwar immer davon, aber mal ganz ehrlich, die eigentliche Einkehr findet doch nie statt, sondern wird vom Konsum und leeren Äußerlichkeiten gelenkt. 

2 comments

  1. Thommy, ich kann so gut nachfühlen, was du mit deinen Worten meinst. Der Tod geht einher mit Neugeburt; und es ist beides stets anwesend; nur blenden die meisten Menschen die dunkle Seite aus oder versuchen es zumindest…und ich selbst will mich davon gar nicht ausnehmen.
    Lass dich nicht unterkriegen von Novembertristesse (die ich tatsächlich sehr liebe) und Reizhusten. Vertrau auf das was kommt. Herzlichen Gruß

Leave a Reply

Your email address will not be published. Required fields are marked *